Endlich Aufbruchsstimmung? Wie zukunftsfähig der Koalitionsvertrag wirklich ist
Erst haben alle Ampel-Parteien ihm mit großer innerparteilicher Zustimmung der Reihe nach ihr Go gegeben, gestern haben SPD, Grüne und FDP den Koalitionsvertrag dann auch offiziell unterzeichnet. Doch wie zukunftsfähig sind seine Inhalte? Ich habe mir fünf Fokusthemen angeschaut und analysiert, wie progressiv wir mit der nächsten Bundesregierung aufgestellt sind, wenn die Pläne der Ampel bis 2025 tatsächlich Realität werden.
In den vergangenen Wochen wurde in den Medien schon recht häufig über Inhalte des Koalitionsvertrages der Ampelparteien gesprochen – im Fokus dabei meist Aufregerthemen: etwa die Legalisierung von Cannabis oder das Wahlrecht mit 16 Jahren. Das mag zwar Klicks generieren, viel zentraler sind aber ganz andere Themenblöcke. Ich habe mir daher angeschaut, wie zukunftsfähig der Koalitionsvertrag hinsichtlich der Themen Digitalisierung, Arbeitswelt, Bildung, Nachhaltigkeit und E-Mobility ausgerichtet ist.
Wie digital wird die Ampel?
„Deutschland braucht einen umfassenden digitalen Aufbruch.“ Das steht so wortwörtlich im Papier. Wer hier in den letzten Monaten mitgelesen hat, weiß: Dem kann ich nur zustimmen. „Für die vor uns liegenden Aufgaben braucht es Tempo beim Infrastrukturausbau. Die Verfahren, Entscheidungen und Umsetzungen müssen deutlich schneller werden.“ Auch das kann ich nur unterschreiben – weniger Bürokratie, mehr Ergebnisse. Positiv aufgefallen ist mir zudem, dass Digitalisierung in so gut wie jedem Themenabschnitt aufgegriffen wird – ob es um Gesundheit, Bildung, Klima, wirtschaftliches Wachstum oder die öffentliche Verwaltung geht. Ohne Digitalturbo geht in diesem Land nichts mehr, das scheint die Ampel verstanden zu haben.
Und es gibt viele gute Ansätze und Ideen im Vertrag: KMU sollen bei der Digitalisierung unterstützt werden. Die Zeiten der Faxgeräte im Öffentlichen Dienst sind gezählt, medizinisches Personal soll umfassende Weiterbildungen erhalten, um die Digitalisierung des Gesundheitswesens mittragen zu können – um nur einige Beispiele zu nennen. Unklar bleibt für mich aber, wie das genau funktionieren soll. Wer hat beim Thema Digitales den Hut auf? Ein eigenes Digitalministerium schlossen die Beteiligten ja bereits sehr früh aus. So soll es also der Minister für Verkehr und Digitales richten? Immerhin, der kommt im neuen Kabinett von der digitalaffinen FDP. Ich wünsche ihm viel Erfolg. Auch wenn ich denke, dass diese Mammutaufgabe in einem Ministerium, das auch noch die Verkehrswende abwickeln soll, nicht optimal aufgehoben ist. Aber genug davon – meine Meinung zum Thema ist ja hinlänglich bekannt. Kommen wir lieber zum Thema berufliche Weiterbildung, das in meinen Augen untrennbar mit allen digitalen Innovationen, die den Koalitionsparteien vorschweben, verwoben ist.
Weiterbildung für alle, yes please!
Auch beim Thema Reskilling hat das Vertragspapier einiges zu bieten. So sei „eine gezielte Nationale Weiterbildungsstrategie wesentliche Voraussetzung, um unsere wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ziele zu erreichen.“ Auf jeden Fall! Die Regierung in spe verspricht, „Möglichkeiten für berufliche Neuorientierung, Aus- und Weiterbildung – auch in Teilzeit“ zu verbessern. Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik sollen gezielt aufeinander abgestimmt werden. Das klingt alles ganz wunderbar. Ein wenig verklärt wirkt jedoch die Aussage, dass ein neuer „Schub für berufliche Aus-, Fort- und Weiterbildung oder Neuorientierung auch in der Mitte des Erwerbslebens, vor allem dann, wenn der technologische Wandel dies erfordert“ ermöglicht werden soll. Das „wenn“ doch bitte direkt gedanklich streichen – es lässt sonst vermuten, dass die Verantwortlichen in einem Paralleluniversum leben, in dem nur ein kleiner Teil der Bevölkerung jemals den Need für Reskilling haben wird. Fest steht aber, dass nicht nur einige wenige, sondern verdammt viele Mensche etwas angeht. Wer sich zum Thema informieren möchte, kann auch gerne einen Blick in unseren Reskilling Index werfen.
Forschungsförderung und Digitalpakt 2.0: ein echtes Upgrade?
In puncto Bildung und Forschung erfreut mich folgender Satz: „Für die Lösungen der großen gesellschaftlichen Herausforderungen benötigen wir eine starke Wissenschafts- und Forschungspolitik.“ Schauen wir aber mal genauer hin: Der Anteil gesamtstaatlicher Ausgaben für Forschung und Entwicklung soll bis 2025 auf 3,5 Prozent des BIP erhöht werden. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 lag er bei 3,2 Prozent. Was für ein Bekenntnis zum Innovationsstandort Deutschland – Sarkasmus off. Sieht es zumindest in den Schulen besser aus?
Hier soll es ein Digitalpakt 2.0 richten – das Upgrade zur Digitalstrategie der scheidenden GroKo sozusagen. Konkret heißt es hier, dass Länder und Kommunen dauerhaft bei der Digitalisierung des Bildungswesens unterstützt werden. Der konkrete Bedarf hierfür werde im ersten Halbjahr 2022 ermittelt – höchste Zeit! Der Pakt 2.0 habe dann eine Laufzeit bis 2030, vor allem Hardware steht hier im Fokus. Eine so lange Laufzeit der Fördermittel lässt zumindest befürchten, dass man hier nicht vom erhofften Turbo ausgehen darf. Auch digitales und digital gestütztes Unterrichten in Schule und Weiterbildung soll gefördert und „eine zentrale Anlaufstelle für das Lernen und Lehren in der digitalen Welt“ geschaffen werden. Halleluja. Bitte ganz schnell umsetzen!
Aufbruch-Jahrzehnt für die Mobilität
Apropos schnell: Beim Thema Mobilität der Zukunft wollen die Ampelakteure tatsächlich einen Turbo zünden. Denn mit 15 Millionen E-Auto-Zulassungen bis 2030 haben sie sich ganze fünf Millionen mehr als die scheidende Regierung vorgenommen. Wie dieses ehrgeizige Ziel erreicht werden soll, scheint allerdings noch ungewiss. Ich hatte mir einst ein paar Gedanken zum Thema gemacht. Zumindest erhält das Thema Ladeinfrastruktur einen eigenen Absatz: Man möchte ein besseres Schnellladenetz etablieren und eine Million öffentlich zugängliche Ladepunkte schaffen. Auch hier würde ich gerne zügig konkretere Pläne sehen, denn das ist absolut maßgeblich für das Gelingen der Mobilitätswende – und ein elementarer Baustein im Kampf gegen die Klimakrise allemal.
Klimakrise anpacken – bitte noch energischer
Und wo wir schon beim Thema sind, Die Grünen stellen den Minister für Wirtschaft und Klimaschutz. Das ließ einiges erhoffen. Zoom-in auf das Koalitionspapier: Moderne Technologien sollen für eine wettbewerbsfähige und klimaneutrale Zukunft sorgen. Saubere Energiegewinnung und -versorgung sowie nachhaltige Mobilität sind als Fokusthemen der Forschung festgehalten. Genauso wie „Klima, Klimafolgen, Biodiversität, Nachhaltigkeit, Erdsystem und entsprechende Anpassungsstrategien, sowie ein nachhaltiges Landwirtschafts- und Ernährungssystem.“ Wenn diese Themen wirklich die ihnen zustehende Aufmerksamkeit bekommen, könnten wir in Sachen Sustainability bedeutend weiterkommen. Erfreulich: Die Ampel möchte vor allem „Potentiale der Digitalisierung für mehr Nachhaltigkeit nutzen.“ Und die neuen Lenker:innen Deutschlands machen die 17 Globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDG) zur „Richtschnur [ihrer] Politik.“ Der „Ausbau der Erneuerbaren Energien [wird] zu einem zentralen Projekt [d]er Regierungsarbeit“. 80 Prozent des Bruttostrombedarfs soll 2030 aus Erneuerbaren Energien stammen.
Dafür brauche man „mehr Tempo und Verbindlichkeit beim Netzausbau auf allen Ebenen.“ Bundesnetzagentur und Netzbetreiber sollen schleunigst den passenden Plan für ein Klimaneutralitätsnetz berechnen. Besonderes Augenmerk liege auf den Stromautobahnen. Wie war das noch mit der Digitalisierung und ihren Potentialen? Einen Umbau des deutschen Stromnetzes zum Smart Grid hält man offenbar nicht für nötig – oder sagt es uns bloß nicht –, obwohl das sehr schnell den Weg für deutlich mehr Erneuerbare in unserem Land frei machen würde. Ich meine ja nur.
Das Fazit: Wunschzettel mit Potenzial
Die Ampel ist ehrgeizig und das ist gut so. Von konkreten Lösungsansätzen ist im Koalitionspapier allerdings noch nicht genug zu lesen, jedenfalls in den Bereichen, die ich mir angeschaut habe. Ich würde mich freuen, wenn viele der guten Ideen der neuen Bundesregierung Wirklichkeit werden – noch besser wäre, wenn an passenden Stellen sogar noch nachgelegt wird. Doch statt jetzt gleich zu Beginn die Nadel im Heuhaufen zu suchen, haben die neuen Minister:innen jede Chance verdient erst einmal loszulegen und ihren 177-Seiten-starken Wunschzettel anzugehen – auch wenn wie immer und überall am Ende die Resultate zählen.