Impact statt Pflichterfüllung: Wieso Sustainable Finance kein Thema für Übermorgen ist
Es ist längst kein Geheimnis, dass das Transformationsthema Nachhaltigkeit Unternehmen und Akteur:innen aller Branchen vor Herausforderungen stellt: So schlägt das Thema auch in der Finanzwelt seit einiger Zeit immer größere Wellen – in diesem Monat etwa ganz konkret durch das Inkrafttreten einer neuen Richtlinie zur Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen, die das Beratungsgeschäft verändert. Und während dieser Push grundsätzlich sehr zu begrüßen ist, offenbart sich doch, dass es noch einigen Nachholbedarf beim Thema Sustainable Finance gibt. Wieso sich die Branche für künftige Richtlinien besser rüsten muss und wie uns Qualifizierung auf dem Weg zu impact-orientierten Strategien weiterhilft, habe ich hier aufgeschrieben.
In einigen Branchen ist schnell erfasst, welche Aspekte das Thema Sustainability betrifft und wieso: Beim produzierenden Gewerbe etwa liegt klar auf der Hand, dass beispielsweise Materialbeschaffung und Lieferketten im Sinne der Nachhaltigkeit bewertet und optimiert werden können – weil hier greifbar ist, an welcher Stelle Ressourcen zum Einsatz kommen. Im Finanzwesen sieht das etwas anders aus: Zwar verursacht die Finanzbranche anders als etwa Industrieunternehmen keinen großen direkten Ausstoß von Treibhausgasen. Doch allen, die sich einmal mit dem Themenkomplex befassen, ist durchaus klar, dass in einer immer stärker digitalisierten Welt auch jeder noch so abstrakte Prozess – eben auch die Transaktionen von Banken und Versicherungen – einen ökologischen Fußabdruck hinterlässt. Die Finanz- hat viele Schnittstellen mit der IT-Branche. Sie kann daher auch ganz ähnlich wie der IT-Sektor gesehen werden, welcher sich aktuell ebenfalls stark mit Klimaneutralität und der nachhaltigeren Ausrichtung seiner Prozesse befasst. Denn der für IT-Prozesse anfallende Stromverbrauch durch Rechenzentren oder auch Cloud-Lösungen ist derzeit noch sehr hoch. Meiner Ansicht nach muss sich der Finanzsektor daher schnellstmöglich ein klares Bild über die tatsächliche Rolle, die er spielt, verschaffen, flächendeckend auf erneuerbare Energien umstellen – bei gleichzeitiger Einführung energiesparenderer Prozesse, so wie es erste Player klar vormachen.
Welche Regelungen in Deutschland und der EU gelten: Transparenz wird immer wichtiger
Auch in der Finanzbranche fordern vor diesem Hintergrund immer mehr Regularien Nachhaltigkeitsnachweise ein. Schon in Kraft getreten ist 2021 zum Beispiel die EU-Transparenzverordnung 2019/2088, die Finanzinstitute und andere Finanzmarktteilnehmende verpflichtet, ihren Umgang mit dem Thema Nachhaltigkeit offenzulegen. Dabei steht nicht nur das Anlageportfolio von Banken und Versicherungen vor einer Transformation nach ESG-Kriterien – auch die Unternehmen selbst müssen sich verändern und die Auswirkungen ihrer täglichen Arbeit in den Fokus nehmen. Unternehmen ausgewählter Branchen, darunter auch Banken, müssen bereits seit diesem Jahr in ihren Geschäftsberichten über das Jahr 2021 den Anteil nachhaltiger Investments und Umsätze ausweisen. Diese Geschäftsberichte wiederum stellen auch die Grundlage für Entscheidungen etwa von Investitionsfonds dar, wenn diese gezielt in Firmen investieren wollen, die nachhaltige Aktivitäten im geforderten Maß nachweisen können. Man sieht also deutlich, das Thema ist ein Kreislauf und für die unterschiedlichsten Stakeholder:innen und Perspektiven relevant.
Mehr Aufmerksamkeit für Sustainability: Abfragepflicht gilt seit diesem Monat
Seit August 2022 kommt ein weiterer Aspekt dazu: Vermittler:innen sind nun verpflichtet, die Nachhaltigkeitspräferenzen ihrer Kund:innen abzufragen und sie zum Thema nachhaltige Versicherungs- und Finanzanlageprodukte zu beraten (siehe auch: Änderungen der delegierten Rechtsakte zur MiFID II insbesondere der delegierten Verordnung (DVO) ((EU) 2021 / 1253). Die von den Kund:innen genannten Präferenzen müssen Banken dann bei ihren Anlageempfehlungen und -entscheidungen berücksichtigen. Damit das gelingen kann, ist die Klassifizierung nachhaltiger Finanzprodukte nun deutlich detaillierter und geht über die bisherige SFDR-Klassifizierung hinaus: Gemeinsam mit anderen Verbänden hat der Bankenverband einen gemeinsamen Mindeststandard zur Bestimmung des Zielmarkts nach der neuen Direktive entwickelt. Dieses Konzept wurde ebenfalls erweitert, um den neuen Nachhaltigkeitsanforderungen der delegierten Verordnung gerecht zu werden. Das betrifft konkret Wertpapierfirmen, die Anlageberatungen bzw. Portfolioverwaltung anbieten. Der zugehörige Rechtstext erschien schon im April 2021, trat am 2. August 2021 in Kraft und findet seit dem 2. August 2022 Anwendung.
Richtlinien sind das eine, die Praxis etwas anderes
Und wie reagieren diejenigen, die diese Richtlinie nun umsetzen sollen? Dazu habe ich kürzlich eine interessante Umfrage von BVK GSN gelesen, in der rund 300 Finanzberater:innen befragt wurden und die deutlich macht: Der Themenkomplex Nachhaltigkeit stößt unter den Makler:innen allgemein auf großes Interesse, es bestehen allerdings enorme Informationsdefizite: Einerseits sagen stolze 75 Prozent der Befragten, dass sie aus voller Überzeugung am Thema Nachhaltigkeit interessiert seien. Das ist natürlich sehr zu begrüßen! Allerdings fühlen sich 71 Prozent der Befragten gar nicht oder wenig über Vorgaben zu Inhalt, Ablauf und Dokumentation des Beratungsprozesses im Bereich Nachhaltigkeit informiert. Ähnlich große Unsicherheit besteht bei der Beurteilung der Nachhaltigkeitsaussagen zu einzelnen Produkten – hier fühlen sich bisher nur vier Prozent der Umfrageteilnehmer:innen vollständig informiert. Das spricht doch Bände! Natürlich ist es absolut gut und richtig, dass der gesetzliche Rahmen das Thema Nachhaltigkeit treibt und höhere Anforderungen schafft – nur so kommen wir gesellschaftlich voran. Doch wenn am Ende all jene, die diese Themen umsetzen sollen, überfordert sind, nützt auch die beste Richtlinie nichts – in der Praxis kommt das Thema dann schneller zum Erliegen als uns lieb ist. Was also tun? Gegen die bestehenden Unsicherheiten gibt es meiner Überzeugung nach nur ein Heilmittel: Wissensaufbau.
Bildung bleibt der beste Fortschrittstreiber – auch für Sustainable Finance
Ich bin nach wie vor überzeugt: Wer Wandel herbeiführen möchte, muss immer auch die Transformationstreibenden, also die Menschen, dabei mitnehmen. Im konkreten Fall gilt es also, flächendeckendes Wissen bei den Makler:innen aufzubauen, damit sie sich heute und in Zukunft in der Lage sehen, ihren Aufgaben genauso nachzukommen, wie es die Gesetzgeberin wünscht. Da auch die Arbeitgebenden ein Interesse daran haben sollten, dass ihre Leute arbeitsfähig bleiben und wir schlicht nicht erwarten dürfen, sollten sie ihren Mitarbeitenden den Rücken stärken. Daher täten die Finanz- und Versicherungsinstitute gut daran, wenn sie ihren Angestellten durch betriebliche Weiterbildung Zugang zu genau diesem Wissen verschaffen. Die aktuelle Richtlinie und die dazu ermittelten Wissensdefizite können wir als kleinen Weckruf verstehen, allerdings wissen wir alle: Es wird nicht bei den aktuellen Vorgaben bleiben.
In den nächsten Jahren wird mit absoluter Sicherheit nachgeschärft, weitere umfassendere Vorgaben rollen auf die Branche zu – um für den immer weiter steigenden Bedarf nach nachhaltiger Geschäftsausrichtung Sorge zu tragen. Daher ist es eine gute Idee schon heute die Basis für die Zukunft zu legen und allen Mitarbeitenden Zugang zu passendem Basiswissen und praktischem Know-how zu verschaffen. Im Bereich Sustainable Finance sollte dafür neben einem grundlegenden Verständnis über die Facetten von Nachhaltigkeit auch Wissen über nachhaltige Finanzstandards, ESG-Regularien und Strategien sowie den Überschneidungspunkten zwischen nachhaltigen Finanzen und nachhaltiger Wirtschaft auf der Agenda stehen. Sind die Mitarbeitenden mit passendem Grund- und Anwendungswissen ausgestattet, können sie das Themenfeld Nachhaltigkeit so durchdringen und weiterdenken, dass sie auch souverän mit neuen Anforderungen umzugehen und diese umzusetzen wissen. Im nächsten Schritt können Vermittler:innen und andere Mitarbeitende zu aktiven Treiber:innen der Nachhaltigkeitstransformation werden und impact-orientierte Strategien entwickeln, die uns wirklich weiterbringen.
Ein paar Expert:innen machen noch keine Transformation
In diesem Zusammenhang möchte ich dringend davon abraten, nur ein paar ausgewählte Expert:innen zu qualifizieren. Wie sollen ein paar einzelne Fachläute so ein großes Transformationsthema treiben, wenn es am Ende doch alle betrifft? Mit Blick auf die aktuelle Richtlinie mag es sich so anhören, als müssten „nur“ die Makler:innen Bescheid wissen, um einen gesetzlichen Standard abzubilden. Das greift in der Betrachtung aber zu kurz: Denn Nachhaltigkeit ist ein tiefgreifendes Transformationsthema und betrifft daher früher oder später alle Unternehmensbereiche. Mein Eindruck ist nämlich, dass es in vielen Unternehmen, die Nachhaltigkeit tatsächlich angehen wollen, nicht etwa an ehrgeizigen Zielsetzungen, sondern an der passenden Umsetzungsstruktur für das Thema hapert – also an souveräner Governance, die das Ganze in die Fläche tragen und fest verankern kann. Wenn hier an Budgets und Konsequenz gespart wird, hat die Transformation keine Chance. Denn „nebenbei“ läuft sie eben nicht. Vielmehr muss über alle Ebenen hinweg strategischer und organisatorischer Rückhalt etabliert und von der Unternehmensführung sichtbar getragen werden, damit der Job von Nachhaltigkeits- und ESG-Expert:innen nicht zum Kampf gegen Windmühlen wird.
We’re in this together: Die Innovationskraft des Austausches führt zu mehr Impact
Anschließend möchte ich daher nochmal zwei zentrale Gedanken mitgeben. Erstens braucht es die breite Front der Belegschaft, um Nachhaltigkeit in Unternehmen jeder Größenordnung voranzutreiben. Und den Grundstein dafür, dass das gelingt, legt Wissensaufbau: Alle Mitarbeitenden in einem Finanz- oder Versicherungsbetrieb sollten daher lernen, was genau sich hinter Nachhaltigkeit im Allgemeinen und Sustainable Finance im Speziellen verbirgt. Da der Wissensstand hier sehr unterschiedlich sein kann, lohnt sich ein Blick auf den Status Quo: Wie weit sind die Leute beim Thema schon und wo bedarf es noch Unterstützung? So wird nicht nur sichergestellt, dass vor dem Hintergrund aktueller Regelungen alle handlungsfähig bleiben, sondern es wird auch die Resilienz für künftige Entwicklungen im Bereich Nachhaltigkeit gestärkt. Wenn die Belegschaft das Thema zudem als kollektive Aufgabe versteht, an der alle gemeinsam arbeiten – und die noch dazu von Führungsseite konsequent mitgetragen und vorangetrieben wird – dann kann das Ganze richtig Fahrt aufnehmen.
Darüber hinaus bin ich ohnehin der Überzeugung, dass wir echte Fortschritte mit Schlagkraft nicht dadurch erzielen, dass jeder bei einem so tiefgreifenden Thema wie Sustainability sein eigenes Süppchen kocht. Die Herausforderungen sind sicher je nach Branche unterschiedlich ausgeprägt – das lässt sich schon auf unterschiedliche Geschäftsmodelle und Regularien zurückführen. Innerhalb der Branchen stehen Nachhaltigkeitsexpert:innen und solche, die es werden wollen, aber vor sehr ähnlichen Hürden und Fragestellungen. Wie viel schneller könnten diese wohl aus dem Weg geräumt werden, wenn wir das Thema als kollektive Aufgabe verstünden und den systematischen, synergetischen Austausch über vermeintliche Wettbewerbsvorteile stellten. Vielleicht klingt das für einige nach Utopie – ich halte es für die einzig gangbare Lösung, wenn wir Nachhaltigkeitstransformation in der deutschen Wirtschaft ernsthaft angehen wollen.