Ukrainekrieg: Zukunft im Blick behalten – Holzbuchstaben If not not when

Zwischen Krieg und Klimakrise: Wieso wir auch jetzt die Zukunft politisch nicht aus dem Auge verlieren dürfen

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Unsere Regierung ist seit drei Monaten im Amt und muss sich mit dem Ukraine­krieg nun direkt einer immensen Krise stellen: Auch wenn dabei entschiedenes Handeln gefragt ist, dürfen wir uns nicht mit politischen Schnell­schüssen zurück in die Vergangen­heit kata­pultieren – sondern müssen die Zukunft im Blick behalten! Das sind wir den kommenden Generationen schuldig.

Eigentlich hätte ich an dieser Stelle gerne einen Blick auf die ersten Errungenschaften der Ampel-Koalition in den letzten drei Monaten geworfen. Doch der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und seine weitreichenden humanitären und weltwirtschaftlichen Folgen machen das hinfällig. Als Olaf Scholz und seine Regierungspartner:innen am 8. Dezember 2021 ihre Geschäfte aufnahmen, konnte niemand absehen, in welcher brutalen Krisenlage sich unser Kontinent heute befinden würde. Nicht nur die westlichen Bündnispartner, sondern vor allem Menschen weltweit stehen zusammen und bieten ganz konkrete Hilfe für Ukrainer:innen an – vor allem für die unzähligen Frauen und Kinder, die bereits aus ihrer Heimat geflüchtet sind. Das berührt und gibt Hoffnung. Doch leider hat der Ukrainekrieg neben den verheerenden Folgen für die unmittelbar betroffenen Menschen, eben auch wirtschaftliche, verteidigungs- und energiepolitische Auswirkungen auf Europa – und wird uns daher wohl selbst nach einer Konfliktlösung noch lange Zeit präsent bleiben.

Uns allen ist klar: Der Ukrainekrieg hat nur Verlierer:innen

Hunderttausende Ukrainer:innen sind dieser Tage auf der Flucht, andere harren in Schutzkellern und wiederum andere kämpfen um eine lebenswerte Zukunft in ihrem Land für künftige Generationen. Doch auch auf der Gegenseite gibt es viel zu viele Leidtragende: Denn die umfassenden – und völlig zurecht eingesetzten – Sanktionen gegen Russland treffen neben schwerreichen Oligarchen, die Druck auf den Machthaber ausüben sollen, am Ende eben auch jene, die am wenigsten dafürkönnen: die Zivilbevölkerung. Wenn internationale Unternehmen wie Ikea oder H&M ihr Geschäft im größten Land der Welt einstellen, verlieren zunächst ganz normale Menschen ihre Lebensgrundlage – und nicht unbedingt die Superreichen. Mich persönlich trifft daher auch die Wahrnehmung das ganz Russland unser Gegner sei – und deshalb bereits russischstämmige Menschen überall in Europa Anfeindungen erfahren sollen. Ich habe u. a. durch mein Engagement im Rahmen des Petersburger Dialogs für einen bilateralen Austausch, zahlreiche Menschen in Russland kennengelernt, die allesamt über den Ukrainekrieg schockiert sind. Wir alle sehen die Bilder von mutigen Protestierenden, die trotz Aussicht auf Verhaftung auf die Straße gehen und sich gegen diesen Wahnsinn aussprechen. Bitte kurz nachdenken: Putin und sein autokratisches Regime sind nicht gleichzusetzen mit der russischen oder russisch-stämmigen Zivilbevölkerung. We are better than that!

Die Achtziger grüßen: Rüstung, AKWs und fossile Energie sollen es richten?

Doch zurück zu dem, was der Ukrainekrieg mit der europäischen Gemeinschaft macht und auch ganz konkret in Deutschland auslöst: Kurz gesagt, wir sind in unseren Debatten wieder auf dem Niveau vor dem Fall des Eisernen Vorhangs angekommen und rüsten nun fleißig auf. Ich bin nach wie vor fassungslos, aber zugleich traurig und wütend! Denn aufgrund der derzeitigen Lage sieht sich unsere Regierung gezwungen, viel zu viel Energie und finanzielle Mittel in Themen stecken, von denen wir eigentlich dachten, sie längst hinter uns gelassen zu haben. So machte die Bundesregierung sehr kurzfristig 100 Milliarden für die Bundeswehr locker, es wurde sogar über eine Rückkehr der Wehrpflicht debattiert. Nur logisch, dass so die Aktienwerte von Rüstungsbetrieben in die Höhe schnellen. Und dann wird es richtig verrückt: Plötzlich sind selbst Vorschläge im Gespräch, unsere veralteten Kohle- und Atomkraftwerke länger am Netz zu lassen, um die Abhängigkeit von Putins Gas und Öl zu reduzieren. Glücklicherweise sprechen sich Umwelt- und Wirtschaftsministerium schon einmal klar gegen eine AKW-Laufzeitverlängerung aus. Aber um Himmels willen! Wie frustrierend, dass wir nun wieder die Themen der Achtziger Jahre auf dem Tisch haben. Sollten wir da nicht eher den Forderungen nach einem beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien mehr Gehör schenken – und trotz allem so zukunftsgerichtet wie möglich agieren?

Jetzt mal ehrlich: Rückschritte sind das völlig falsche Signal

Was mir nämlich durchaus Sorgen bereitet: Denken die Regierenden bei aktuellen Entscheidungen auch zu Genüge an die Auswirkungen für die nächsten Generationen? Keine Frage, diese Krise übertrifft alles, womit wir uns in den vergangenen Jahren in Deutschland und Europa auseinandersetzen mussten. Und doch würden wir unter anderen Umständen natürlich alles, was aktuell in Panzer investiert werden muss, viel lieber in Bildung, Klimaschutz, Digitalisierung – kurzum in die Zukunft – stecken. Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich ist unsere Sicherheit wichtig und auch ich wünsche mir, dass meine Kinder in einem friedlichen Land aufwachsen. Doch können wir das durch finanz- und energiepolitische Schnellschüsse wirklich am besten gewährleisten? Uns muss doch Besseres einfallen, als politisch zurück in die Vergangenheit zu reisen.

Immerhin sind Absagen für Finanzmittel, wenn es um wirksame Maßnahmen gegen die anderen großen Krisen unserer Zeit geht, spätestens jetzt schlicht unglaubwürdig. Wir sehen doch, dass es geht. Aber muss die Lage dafür wirklich immer erst so stark eskalieren? Klar, die Klimakrise ist nicht so greifbar wie ein kriegerischer Überfall in einem europäischen Nachbarland – dennoch wünsche ich mir etwa im Kampf gegen die Erderwärmung ganz ähnlich entschlossene Maßnahmen, wie wir sie aktuell in Bezug auf den Ukrainekrieg erleben. Tatsache ist doch, uns bleiben nicht mehr viele Jahre, um die kritische Marke von 1,5-Grad zu halten. Diese Bedrohung für unsere Zukunft ist, wenn auch aktuell in Mitteleuropa noch weniger spürbar, doch absolut real – und darf auf keinen Fall weiter unterschätzt werden. Erst kürzlich machte auch der aktuelle Statusbericht des Weltklimarats klar, wie brenzlig die Lage bereits ist: Schon heute seien bis zu 3,6 Milliarden Menschen durch die Folgen des Klimawandels „hochgradig gefährdet“.  Wir müssen daher wirklich um jedes Zehntel-Grad Temperaturerhöhung kämpfen – zu dramatisch sind die Auswirkungen, wenn wir es nicht tun.

Zukunft im Blick behalten und Krisen noch aktiver vorbeugen

Auch wenn es schwerfällt, in diesen Zeiten noch Kapazitäten für andere große Themen freizumachen: Wir müssen unbedingt auch weiterhin unsere Zukunft und die kommender Generationen ins Visier nehmen und dürfen uns in so einer prekären Situation nicht mit Kurzschlussreaktionen ins (klima-)politische Aus navigieren. Ich hoffe sehr, dass die aktuellen internationalen Anstrengungen und der kämpferische Widerstand in der Ukraine die russische Führung schnellstmöglich zum Umdenken bewegen. Denn welche weiteren immensen Folgen der Ukrainekrieg haben kann, wenn er nicht bald endet, möchte man sich gar nicht ausmalen. Aber ich hoffe auch, dass Olaf Scholz und die Ampelkoalition aus dieser Krisenlage eines mitnehmen: Wenn wir eine Gefahr zu lange klein reden und unterschätzen, kann und wird das verheerende Folgen haben. Also lasst uns, sobald es die Lage zulässt, Nägel mit Köpfen machen und beherzt in die Zukunft investieren – damit kommende Generationen ein friedliches und lebenswertes Deutschland und Europa vorfinden. Wir sind es ihnen schuldig!